Im Hohen Alter Klavierspielen lernen

Die Annahme, dass man bestimmte Fähigkeiten ab einem gewissen Alter nicht mehr erlernen kann, hält sich mitunter hartnäckig. Es ist ohne weiteres möglich, das Klavierspielen auch in einem hohen Alter zu erlernen. Die Grundlage hierfür bildet die sogenannte Neuroplastizität (wenn du mehr darüber erfahren möchtest, lies dir gerne diesen Artikel durch). Im Gegenteil bringt das Klavierspielen im hohen Alter eine Reihe von gesundheitlichen Vorteilen mit sich. Welche das sind, erfährst du in diesem Beitrag.

Bild von Wim van’t Einde (Unsplash)

Brain Reserve und kognitive Reserve

Musizieren scheint sich nach derzeitigem Forschungsstand förderlich auf die sogenannte Brain Reserve und auf die kognitiven Reserven auszuwirken1. Der Begriff Brain Reserve bezieht sich auf die strukturellen Gegebenheiten und stützt sich auf der Tatsache, dass ein höheres Volumen an grauer Substanz den Abbau verlangsamt und somit das Auftreten von Symptomen verzögert1. Die graue Substanz hat ganz allgemein die Funktion, Reize aufzunehmen und zu verarbeiten (je nach Gebiet, unterschieden sich demnach die Aufgaben)2.

Mit kognitiver Reserve sind einerseits Optimierungsprozesse gemeint, anhand derer die Effizienz von Netzwerken gesteigert wird. Andererseits können Funktionen in Rahmen von kompensatorischen Strategien auch durch andere Netzwerke unterstützt werden oder vollständig von diesen übernommen werden1.

Gesundes Altern und Prävention

In einer Untersuchung von Jünemann et al. hat sich Klavierspielen bei gesunderen, älteren Menschen positiv auf die Planung, Ausführung, Überwachung/Korrektur von komplexen, feinmotorischen Bewegungen ausgewirkt3. Zudem scheint das Klavierspielen einen protektiven Charakter gegen Gehirnatrophie und kognitive Beeinträchtigung zu haben, da es den altersbedingten Abbau grauer Substanz verlangsamt4. Altersbedingte Abbauprozesse des Arbeitsgedächtnisses führen zu kognitiven Beeinträchtigungen, welche Einfluss auf das alltägliche Leben ausüben5. Altersbedingter Abbau an Volumen und Masse findet trotz des Musizierens statt5.

Klavierspielen kann teilweise zur Aufrechterhaltung der grauen Substanz in bestimmten Regionen beitragen, wie Ergebnisse einer Untersuchung von Marie et al. 5 zeigen, in der bei Teilnehmer*innen der Klaviergruppe eine Stabilisierung der grauen Substanz in einer Unterregion des primären auditorischen Cortex beobachtet wurde. Auf diesen protektiven Charakter des Klavierspielens deuten auch Ergebnisse einer Studie von Yamashita et al. hin, welche bei älteren Personen, die musikalisch aktiv sind, größere Volumen grauer Substanz im Cerebellum und im Hippocampus vorgefunden haben6.

Prozedurale Erinnerungen

Mit zunehmendem Alter nimmt die Fähigkeit zur Konsolidierung von prozeduralen Erinnerungen ab7. Damit ist das Festigen und Behalten von gelernten Fertigkeiten und Routinen gemeint8. In einem Experiment haben Müller et al. einen protektiven Effekt des Klavierspielens gegen den altersbezogenen Abfall der Konsolidierungsfähigkeit bemerkt. Die positiven Auswirkungen der motorischen Fähigkeiten auf die Gedächtniskonsolidierung konnten nur bei älteren Personen beobachtet werden. Somit konnten ältere Personen neu gelernte Bewegungen gleich effizient konsolidieren wie jüngere Personen, weshalb die Autor*innen von einem kompensatorischen Effekt ausgehen. In Anbetracht dieser Tatsache konnte bei den jüngeren Personen mutmaßlich keine positive Veränderung ausgemacht werden, da hier noch keine altersbezogenen Abfälle der Konsolidierungsfähigkeit eingetreten sind7.

Verzögerung der Alzheimer-Krankheit

In einer Studie aus 2022 haben sich Jünemann et al. mit der Auswirkung des Klavierlernens in einem fortgeschrittenen Alter auf die Stabilisierung der Mikrostruktur der weißen Substanz in der Fornix cerebri beschäftigt. Das Klavierlernen hat zu einer Stabilisierung der Mikrostruktur der weißen Substanz in der Fornix cerebri geführt. Die Fornix ist der Hauptausgangstrakt des Hippocampus und Veränderungen ihrer Mikrostruktur waren positiv korreliert mit Verbesserungen des episodischen Gedächtnisses. Das episodische Gedächtnis bezieht sich auf die Erinnerung an persönlich erlebte Ereignisse9.

Das Lernen und Abrufen von spezifischen Bewegungen in Verbindung mit den musikalischen Klängen haben zu einer starken Beteiligung der Fornix geführt. Die Fornix Cerebri erfährt zunehmend Interesse als möglicher Biomarker für leichte kognitive Beeinträchtigungen und der Alzheimer-Krankheit. Das Erlernen des Klavierspielens in einem hohen Alter könnte durch die Stabilisierung der Mikrostruktur der weißen Substanz in der Fornix als Intervention dienen, um das Auftreten der Alzheimer-Krankheit und der leichten kognitiven Beeinträchtigung zu verzögern10.

Darüber hinaus scheint sich das Klavier üben positiv auf die visuomotorische Koordination, auf die Aufmerksamkeit und auf motorische Funktionen auszuwirken. Allgemein kann Klavierspielen zu einem signifikanten Anstieg in Bezug auf einige Aspekte der Lebensqualität (quality of life) führen11.

Zusammenfassung

Wenngleich die Forschung in diesem Bereich noch sehr jung ist, gibt es zahlreiche Belege für die positiven Effekte, die das Klavierspielen im Rahmen von gesunden Alterungsprozessen einnehmen kann. Dies ist auch dann der Fall, wenn das Klavierspielen erst im hohen Alter erlernt wird. Neben einer Reihe von weiteren positiven mentalen Aspekten, kann Klavierspielen dem Abbau der grauen Gehirnmasse entgegentreten. Wenngleich der Abbau nicht gänzlich gestoppt werden kann, können somit zumindest einige Teilbereiche länger aufrecht erhalten werden und ein Auftreten der Alzheimer-Krankheit oder von leichten kognitiven Beeinträchtigungen kann möglicherweise verzögert werden.

Wenn man nun noch berücksichtigt, dass das Klavierspielen zudem unheimlich viel Spaß machen kann und auch auf emotionaler Ebene positive Effekte hervorrufen kann, dann lohnt es sich allemal das ganze auch im hohen Alter einmal auszuprobieren.

In unserem Blog findest du noch weitere Themen rund um’s Klavierspielen und um den Klavierunterricht.

1.            Fauvel B, Groussard M, Eustache F, Desgranges B, Platel H. Neural implementation of musical expertise and cognitive transfers: could they be promising in the framework of normal cognitive aging? Front Hum Neurosci [Internet]. 22. Oktober 2013 [zitiert 8. Juni 2024];7. Verfügbar unter: https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fnhum.2013.00693

2.            Graue und weiße Substanz [Internet]. Kenhub. [zitiert 9. November 2024]. Verfügbar unter: https://www.kenhub.com/de/library/anatomie/graue-und-weisse-substanz

3.            Jünemann K, Engels A, Marie D, Worschech F, Scholz DS, Grouiller F, u. a. Increased functional connectivity in the right dorsal auditory stream after a full year of piano training in healthy older adults. Sci Rep. 15. November 2023;13(1):19993.

4.            Martínez-Molina N, Siponkoski ST, Särkämö T. Cognitive efficacy and neural mechanisms of music-based neurological rehabilitation for traumatic brain injury. Ann N Y Acad Sci. 2022;1515(1):20–32.

5.            Marie D, Müller CAH, Altenmüller E, Van De Ville D, Jünemann K, Scholz DS, u. a. Music interventions in 132 healthy older adults enhance cerebellar grey matter and auditory working memory, despite general brain atrophy. Neuroimage Rep. 1. Juni 2023;3(2):100166.

6.            Yamashita M, Ohsawa C, Suzuki M, Guo X, Sadakata M, Otsuka Y, u. a. Neural Advantages of Older Musicians Involve the Cerebellum: Implications for Healthy Aging Through Lifelong Musical Instrument Training. Front Hum Neurosci [Internet]. 5. Januar 2022 [zitiert 26. April 2024];15. Verfügbar unter: https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fnhum.2021.784026

7.            Müller NCJ, Genzel L, Konrad BN, Pawlowski M, Neville D, Fernández G, u. a. Motor Skills Enhance Procedural Memory Formation and Protect against Age-Related Decline. Ginsberg SD, Herausgeber. PLOS ONE. 22. Juni 2016;11(6):e0157770.

8.            DocCheck M bei. Prozedurales Gedächtnis [Internet]. DocCheck Flexikon. [zitiert 9. November 2024]. Verfügbar unter: https://flexikon.doccheck.com/de/Prozedurales_Ged%C3%A4chtnis

9.            DocCheck M bei. Episodisches Gedächtnis [Internet]. DocCheck Flexikon. [zitiert 9. November 2024]. Verfügbar unter: https://flexikon.doccheck.com/de/Episodisches_Ged%C3%A4chtnis

10.         Jünemann K, Marie D, Worschech F, Scholz DS, Grouiller F, Kliegel M, u. a. Six Months of Piano Training in Healthy Elderly Stabilizes White Matter Microstructure in the Fornix, Compared to an Active Control Group. Front Aging Neurosci [Internet]. 2022 [zitiert 15. Februar 2024];14. Verfügbar unter: https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fnagi.2022.817889

11.         Seinfeld S, Figueroa H, Ortiz-Gil J, Sanchez-Vives M. Effects of music learning and piano practice on cognitive function, mood and quality of life in older adults. Front Psychol. 1. November 2013;4:810.

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